Kurt R. Spillmann: "Zukunft schmilzt wie Schnee an der Sonne"

EXIT kann sich auf ein namhaftes Patronatskomitee mit bekannten Persönlichkeiten stützen, die öffentlich für das Selbstbestimmungsrecht der Menschen einstehen. Wir stellen in loser Folge die Sicht von Komitee-Mitgliedern zu wichtigen Fragen rund um das Lebensende vor.

Kurt R. Spillmann, wann und wie sind Sie zum ersten Mal mit Sterben und Tod konfrontiert worden?
Bis zu meinem neunzehnten Geburtstag war Sterben und Tod kein Thema für mich. Vielleicht habe ich einmal an einer Beerdigung eines entfernten Verwandten teilgenommen, ich habe keine Erinnerung mehr an eine Verlusterfahrung.
Hingegen als mein Vater wenige Tage nach meinem neunzehnten Geburtstag völlig unerwartet mit nur neunundvierzig Jahren an einem Herzinfarkt verstarb, da fühlte ich mich vom Blitz aus heiterem Himmel getroffen. Es schien die Welt zusammenzubrechen.
Ich erinnere mich an meinen Vater als einen grossen starken Mann, ruhig in seinem Handeln  und überlegt in seinem Geschäftsgebaren, zugänglich und offen, wenn auch nicht so leutselig wie mein Grossvater. Als Radfahrer hatte er viele Monate Militärdienst geleistet während des Zweiten Weltkriegs und seine körperliche Verfassung war auch 1956 noch ausgezeichnet. Sein Leiden am frühen Morgen jenes Apriltages, seine Schmerzen in der Brust, vor allem sein qualvolles und vergebliches Ringen um Atem stehen als Bild noch lebhaft vor mir.
Der Hausarzt war an jenem Tag mehrmals da, aber vergeblich: am Abend war das Leiden zu Ende, meine Mutter, meine Schwester und ich fassungs- und orientierungslos. Meine Mutter, ebenso tüchtig wie tapfer, übernahm die Zügel im Geschäft, während meine Schwester und ich unsere Ausbildungen fortsetzten und beendeten.
Der Einschnitt in unser Leben, den dieser Tod verursachte, war tief und lebensprägend.

Wie hat sich Ihre Einstellung zu Sterben und Tod im Laufe Ihres Lebens verändert?
Als Kind – so glaube ich mich zu erinnern – war meine Vorstellungskraft überfordert und das endgültige Verschwinden eines Menschen war für mich etwas Rätselhaftes, auch etwas Fernes, denn es betraf mich und meine Familie ja nicht. Ja, meine Grossmutter väterlicherseits war schon lange tot, sie war noch präsent in einer grossen Fotographie über dem Bett meines Grossvaters, aber erlebbar waren Tod und Sterben für mich sehr lange nicht. Selbst als ein Klassenkamerad an der um 1950 noch tödlichen Kinderlähmung starb, nahm ich zwar an der Abdankungsfeier teil, doch ich war nicht schockiert oder tief betroffen: der Betreffende war jetzt „im Himmel“, oder eher in einem unerklärlichen „Jenseits“, das so langsam meine kindliche Vorstellung vom „Himmel“ zu verdrängen begann.
Der völlig unerwartete und plötzliche Tod meines Vaters war dann der grosse Gongschlag, der die ganze Familie erschütterte und mit der Realität des totalen Verlustes, des völligen Verschwindens eines geliebten Menschen und der Absolutheit des Todes konfrontierte.
Seither habe ich im Laufe der Jahrzehnte viele Angehörige, Freunde und Bekannte verloren und bin an ihren Gräbern gestanden. Aber alle diese Todesfälle waren höchstens Wiederholungen von Gefühlen, die ich damals, mit neunzehn Jahren, in ihrer existenziellen Gewalt kennen lernte.

Was wird für Sie beim Älterwerden wichtiger, was weniger wichtig?
Mit dem Älterwerden schmilzt die Zukunft wie Schnee an der Sonne, der gestaltbare Zeitraum vor mir wird zuerst endlich (nachdem er in der Jugend unendlich schien), dann begrenzt, dann mehr oder weniger berechenbar kurz. Ich höre auf, grosse Pläne zu machen und Projekte zu entwickeln. Ich entdecke die Annehmlichkeit des Alltags, die Schönheit der Regelmässigkeit, das Vergnügen der Routine und des Gewohnten.
Das Neue, die Entdeckung des Unbekannten ist zwar weiterhin attraktiv, aber ich muss nicht mehr draussen auf Entdeckung ausgehen: wenn ich darüber lese, mich in gute Texte vertiefen kann, ersetzt mir das die einstigen Abenteuer auf Reisen, in unbekannte Gegenden und mit unbekannten Menschen.
Auch die Wiederholung wird attraktiver: ich lese Texte, die ich vor Jahrzehnten gelesen und spannend gefunden habe. Ich lese sie neu und geniesse sie neu, und vielleicht ganz anders.
Das Gespräch mit meiner Frau, meiner engeren Familie und einem kleinen Kreis von Freunden bleibt zentral, wird sogar noch wichtiger. Ich höre Interessantes von meiner Tochter, meinem Sohn, meinen Enkeln, ich darf durch diese Gespräche weiter wachsen, hoffentlich grosszügiger, weiter, toleranter werden.

Was heisst für Sie Sterben in Würde?
Für mich ist „ausser sich sein“ würdelos, denn sich selbst kontrollieren, beherrschen zu können, macht doch erst einen ganzen Erwachsenen aus mir. Wenn ich also in Wut oder Angst, in Trauer oder Angst ausser mir bin, fortgetragen von Gefühlen, die ich mit meinem Verstand nicht mehr zu beherrschen vermag, dann empfinde ich diesen Zustand als würdelos.
Die Extremsituation des Sterbens kann als Abschluss eines schmerzvollen Leidensprozesses eintreten, den ich nicht mehr ertragen kann. Der Leidensprozess kann mir vielleicht mit Hilfe von Drogen erleichtert werden, so dass ich im Tiefschlaf oder Koma die Unerträglichkeit der Schmerzen nicht mehr empfinden muss. Doch Sterben in Würde heisst für mich ein wenn möglich bewusstes Abschiednehmen von den Menschen, die mir besonders wichtig sind und – sofern nicht die Natur in einem klaren Moment einen klaren Schlussstrich unter meine Lebensgeschichte zieht – dies in Freiheit und Selbstverantwortung, beraten und unterstützt – aber nicht bevormundet - von medizinischen Fachleuten und der EXIT-Begleitung.

Kurt R. Spillmann (Jg. 1937)
Historiker und emeritierter Professor ETH für Sicherheitspolitik und Konfliktforschung

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