Katharina Spillmann: «Was ist eigentlich wesentlich?»

EXIT kann sich auf ein namhaftes Patronatskomitee mit bekannten Persönlichkeiten stützen, die öffentlich für das Selbstbestimmungsrecht der Menschen einstehen. Wir stellen in loser Folge die Sicht von Komitee-Mitgliedern zu wichtigen Fragen rund um das Lebensende vor.

Katharina Spillmann, was wird für Sie beim Älterwerden wichtiger, was weniger wichtig?

80 Jahre sprechen von einer Lebenszeit-Realität und ich spüre ein
vermehrtes Bedürfnis innezuhalten, um vertiefte Reflexion möglich zu machen. Das Bewusstsein, dass die Erinnerungsspur in die Vergangenheit immer länger und die Zeitspanne in die Zukunft immer kürzer wird, bleibt nicht ohne Auswirkungen auf mein Lebensgefühl. Ich spüre, wie immer mehr und mehr nicht die Frage, “was ist alles noch möglich”, sondern die Frage, “was ist eigentlich wesentlich”, ins Zentrum meiner Überlegungen und meiner Lebensgestaltung rückt. Damit erhält die Begrenztheit des mir verbleibenden Lebenshorizontes eine Tiefe, die sich wie ein neuer, aber ebenso lebendiger und intensiver Lebensraum anfühlt. Dieser langsame Veränderungsprozess bestätigt mein Grundgefühl, dass mein Leben, von Geburt bis zum Tod, ein unentwegter Entwicklungs- und Wachstumsprozess ist, dessen Herausforderungen, aber auch Möglichkeiten, phasenspezifisch höchst unterschiedlich waren und sind. Aus dieser Perspektive ist meine jetzige Lebensphase, das Alter, Teil eines Ganzen, dem ich mich in diesem Sinne annähern möchte.

Wann und wie sind Sie zum ersten Mal mit Sterben und Tod konfrontiert worden?

Meine erste reale Erfahrung mit dem Tod hatte ich in der dritten Primarschulklasse, als fast gleichzeitig ein Schüler der oberen Klasse und die Mutter einer Mitschülerin an Kinderlähmung starben. Weit weg und doch so nah von meiner kindlichen Lebenswelt, erahnte ich damals etwas von diesem Absoluten, Unwiederbringlichen, etwas von diesem tiefen Schmerz und Verlust. Auch, dass es jeden jederzeit treffen konnte, ob Kind oder Erwachsener, prägte sich mir ein.

Wie hat sich Ihre Einstellung zu Sterben und Tod im Laufe Ihres Lebens verändert?

Ich durfte in einer Zeit und an einem Ort aufwachsen und leben, wo Sicherheit, Vertrauen, Möglichkeiten und generell Entfaltung möglich waren und auch in meinem persönlichen Umfeld keine dramatischen Einschnitte und Verluste zu beklagen waren. 1940, also während des 2. Weltkriegs geboren, waren Sterben und Tod zwar Aspekte des Lebens von denen ich hörte, die aber weit in mein erwachsenes Leben hinein keine direkte Rolle spielten und mich dementsprechend höchstens historisch oder philosophisch beschäftigten. Erst mit dem Tod, zuerst meines Vaters und wenige Jahre danach meiner Mutter, wurde ich sowohl mit dem individuell so unterschiedlich Prozesshaften des Sterbens, wie auch der Wucht des Todes konfrontiert. Sterben - so erlebte ich es bei meinen Eltern - schien ein Prozess zu sein, der sehr verschieden verlaufen kann. Bei meinem Vater, einem vitalen und weltzugewandten Menschen, wurden in höherem Alter mehr und mehr Anzeichen eines kontinuierlichen Rückzugs und schwindendem Interesse spürbar, so als wolle etwas in ihm sich vom Leben verabschieden. Sein Tod war leise, auch wenn die Wucht der Tatsache, dass er unwiederbringlich weg war, wie ein ohrenbetäubender, schmerzhafter Paukenschlag durch mich durch ging. Ganz anders bei meiner Mutter, die mit ihren über 90 Jahren noch vital und aktiv ihr Leben gestaltete. Literatur, Musik, Yoga hatten ihren festen Platz so sehr wie die Pflege ihrer Beziehungen und die Anteilnahme am Leben ihrer Kinder und Enkel. Durch einen Schlaganfall wurde sie aus heiterem Himmel aus allem herauskatapultiert und war danach halbseitig gelähmt. Ihre kognitiven Fähigkeiten blieben erhalten, aber sie realisierte schmerzlich, dass sie selber nicht mehr die Gleiche war und dass ihre Fähigkeit, Bücher zu lesen, ihre Freude am Musikhören, ihre körperliche Behändigkeit ihr verloren gegangen waren. Der Gedanke, abhängig geworden zu sein, gepaart mit dieser so einschneidenden Erkenntnis, führte zum Entschluss, so nicht mehr leben zu wollen und sie entschied sich für den Freitod, den sie als Erlösung empfand. Nach einem gemeinsam verbrachten Tag mit ihren Nächsten, der gefüllt war mit ausgetauschten Erinnerungen, gemeinsamem Essen und intensivem Zusammensein, war es dann um fünf Uhr abends, als sie in grosser Ruhe und Sicherheit sich von uns verabschiedete und nach der Einnahme des von der Sterbeorganisation verabreichten Medikaments in unglaublicher Sanftheit langsam erlosch.
Während die plötzlich übermittelte Nachricht vom Tod meines Vaters mich mit schmerzvoller Wucht durchdrang, war mein Gefühl bei meiner Mutter nach dem gemeinsam durchlebten Tag und der den Tag abschliessenden gemeinsam erlebten Sterbebegleitung eher das, einen jede Faser meines Seins beanspruchenden Marathon hinter mich gebracht zu haben. Trauer, Erschöpfung, aber auch eine gefühlte Dankbarkeit, dass meine Mutter in Würde und im Beisein von den Menschen, die sie liebte und die sie liebten, so hatte sterben dürfen, wie sie es sich gewünscht hatte und wie es auch zu ihr und ihrer Lebensführung passte.

Was heisst für Sie Sterben in Würde?
Jetzt, mit Covid, wird es mir noch viel bewusster, welch wichtige Rolle im Sterbeprozess der liebevollen, einfühlsamen Begleitung von Angehörigen oder Freunden zukommt. Die Bilder der nach Ausbruch der Pandemie im Frühjahr 2020 einer kalten Einsamkeit ausgesetzten tausenden von Sterbenden haben auf brutalste Art vermittelt, dass Sterben in Würde ganz viel damit zu tun hat, ob ein Mensch sich in seinen letzten Schritten begleitet oder gehalten weiss von anteilnehmenden Lieben.

Katharina Spillmann, Psychotherapeutin SPV/ASP:

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